Leseprobe
"Ax! Tobias!", zischte Cassie. "Ruhig Blut!"
Das kurz geratene Menschenmädchen lief weiter auf uns zu und stellte sich zwischen mich und den Stier.
Und jetzt dämmerte es mir, dass ich sie vielleicht auch angreifen sollte.
"Schöne Kühe. Brave Kühe. Braaaave Kühe", sagte Cassie mit einer seltsam beruhigenden Stimme. "Hört mal zu, Jungs. Wir haben da eine Kleinigkeit übersehen. Ihr seid keine Ochsen. Ihr seid Stiere. Ihr habt die DNS von einem Stier übernommen, der keiner mehr ist. Versteht ihr? Ihr habt da was, das Ochsen nicht mehr haben ...", sie grinste, "und damit seid ihr vollwertige Stiere und wütend aufeinander."
Prinz Jake stieß im Sturzflug herab, bremste dann einige Meter über dem Boden ab, kreiste und kam zu uns herüber.
< Sie sehen anders aus als die restlichen Ochsen hier >, sagte er.
"Ja, das tun sie", sagte Cassie mit ihrer süßen, leisen So-spricht-man-mit-gefährlichen-Tieren-Stimme. "Wir haben einen Punkt außer Acht gelassen. Nämlich, dass die Ochsen, deren DNS sie übernommen haben, zwar durch die Kastration zu netten, sanften Tierchen wurden, aber genetisch sind sie immer noch Stiere."
< Oh.
Das ist also der Unterschied >, meinte Prinz Jake lachend.
Wovon redeten die? Verwirrend. Beruhigend. Aber der andere Bulle war immer noch da. Noch immer auf meiner Weide. Ich schnaubte. Er schnaubte.
Ich konnte fühlen, wie die Energie durch mich hindurch pulsierte. Ich lebte! Ich war bereit zum Angriff. Bereit, meinen Kopf zu senken, meine Hufe in die Erde zu stemmen und vorzupreschen.
"Jungs. Ax. Tobias. Hört mal zu. Ihr seid keine Ochsen. Ihr seid Stiere. Stiere haben ein ausgeprägtes Revierverhalten. Ihr wollt auf der Stelle kämpfen. Aber das wäre eine schlechte Idee. Eine sehr schlechte Idee."
Prinz Jake war vorbeigerauscht und wieder himmelwärts gestiegen. < Cassie! Der Laster kommt näher! >
Cassie nickte. "Okay, Zeit für einen Waffenstillstand hier. Araber und Israelis. Amerikaner und Russen. Wir rüsten phasenweise ab."
Ich hörte sie. Ich verstand sie. Aber es war mir egal. Mich interssierte allein die Tatsache, die ÜBERWÄLTIGENDE Tatsache, dass mir da ein Bulle trotzig gegenüberstand!
"Ax. Tobias. Jeder von euch geht einen Schritt zurück."
< Cassie, du musst vielleicht türmen! >
Cassie schüttelte ungeduldig den Kopf.
[...]
Cassie packte mich bei den Hörnern und starrte pfeilgerade in eines meiner Augen. "Ich habe keine Zeit für diesen Mist. Wir haben schon so genug Probleme. Krieg dich wieder ein. Und zwar auf der Stelle." Sie riss ihre Ohrmarkenzange hoch, steckte die Marke ins Ende der Zange und dann hörte ich ein lautes Klacken im Ohr. Es folgte ein schwaches, fernes Gefühl, dass mich irgendwas Spitzes gepikst hatte.
Dann drehte sie sich energisch um und schnappte sich Tobias auf die gleiche Weise. Binnen weniger Sekunden waren wir beide markiert. Und beide in der Lage, die Existenz des anderen hinzunehmen.
Fast.
Prinz Jake kam erneut vom Himmel herabgestoßen. Er landete, wie Tobias und ich zuvor, zwischen den Ochsen.
< Cassie! Morph dich! Diese Kerle sind da. >
"Wir haben hier ein Problem", antwortete Cassie. "Sie sind eigentlich keine Ochsen."
< Glaubst du, die Lkw-Fahrer werden das merken? >
"Wie bitte? Natürlich werden sie es merken! Es mögen ja Controller sein, aber ihre menschlichen Wirte sind höchstwahrscheinlich Bauern."
< Was machen wir? Schicken die denn nie Bullen zum Schlachthof? >
"Doch, das tun sie schon. Wenn wir es also bis dorthin schaffen, sind wir vielleicht auf der sicheren Seite. Aber wie kommen wir an diesen Typen im Lkw vorbei? Die werden sich telefonisch zurückversichern wollen, ob das mit den Stieren klargeht. Sie werden sich mordsmäßig aufregen, denn Stiere sind gefährlich. Und sie werden checken, dass da irgendwas nicht stimmt, Ohrmarke hin oder her."
< Wir haben uns schon so viel Trouble aufgehalst >, sagte Jake verbittert. < Ich will jetzt nicht einfach aufgeben. >
Für einen langen Augenblick bewegte sich keiner. Niemand sprach ein Wort. Dann sagte Prinz Jake etwas, das sogar ich erschreckend fand.
< Marco? Glaubst du, du kannst ihren Laster fahren? >
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